LEO

19. Dezember ­2025

Himmel und Hölle

Als der Weihnachtsmann in die Stube trat, fand er die Adelshäupter fertig für die Ausfahrt und ein wenig ungeduldig mit den Hufen scharrend vor.

„Wow!“, brach es sich aus allen vier Kehlen Bahn, und selbst das Christkind konnte sich eines „Oh!“ nicht enthalten.

„He, was ist denn mit dir heute los? Hast du die letzten Tage zu viel in alten Weihnachtsbilderbüchern geblättert?“, stammelte der King. Erinnert mich an meine zart erblichenen, wunderschönen Kindheitsträume.“

„Die Pelze sind hoffentlich nicht echt? Sonst müsste ich der Ausfahrt heute fern bleiben. Am Ende hat der Chef einen zaristischen Anfall und kleidet sich in weinrotem Edelstoff mit Zobelbesatz?!“. Die Stimme der Queen hatte einen unangenehmen schrillen Unterton.

„Ach, Quatsch!“, meinte Lady Edelgunde herablassend. „Sicher ein Faschingsfummel, den der Chef vor Jahrzehnten mal versehentlich ins Lager aufgenommen hat. Aber die hochgebogenen Stiefelspitzen und die Bommel, für einen gereiften Weihnachtsmann sind die ziemlich cool. Du hast nicht zufällig noch ein zweites Paar davon auf Lager? Mit denen an meinen vier adeligen Beinen könnte ich mir die Ausfahrt wesentlich angenehmer vorstellen. Überhaupt könntest du mal etwas für unsere kälteempfindlichen Hufhände und -beine tun! Während du warm eingehüllt auf deinem Schlitten sitzt, waten wir durchs eklig-kalte Nass, durch gesalzene Matschreste oder in kniehohen Schneewehen.“

Weihnachtsmann

Sir Quirin hatte während Lady Edelgundes Standpauke immer wieder hörbar die Luft durch seine Nüstern eingezogen. „Aus deiner Tasche riecht’s eindeutig nach dezent parfümiertem Tabak. Und da alle anderen Nichtraucher sind, wäre es eine famose Überraschung, wenn das mein Weihnachtsgeschenk für dieses Jahr wäre. Ok, du brauchst jetzt nichts sagen, soll ja eine Überraschung sein.“

„Hast du auch noch eine aufbauende Bemerkung zu meinem Aufzug, Kindl? Da kleidet man sich einmal richtig Marke Weihnachtsmann, und dem Hochadel fallen dazu nur lästerliche Bemerkungen ein.“

„Ich finde es top retro“, sprach das Kindl dem Chef seine Bewunderung aus. „Der Gürtel mit der goldenen Schnalle in Taillenhöhe ist das i-Tüpfelchen und betont deine Statur enorm vorteilhaft.“

„Die Vorstellung vom großen Weihnachtsfrieden ist auch nicht bei allen Teilnehmern gleich.“, grumelte der Weihnachtsmann in seinen garantiert nicht aus Zobelfell bestehenden Bart. Während er seine Renner anschirrte, versuchten die Adelshäupter mit unauffälligen Fragen herauszubekommen, warum der Chef heute dieses – wie sie sich eingestehen mussten – ihn stimmungsvoll kleidende Gewand angelegt hatte. Doch der Weihnachtsmann blieb wortkarg: „Wartet’s ab.“, war alles, was er von sich gab.

Die Schneedecke, auf der das Gespann am Ende der Ausfahrt in dem Park landete, in dem Sven seit Menschengedenken seine Wohnstatt unter einer Brücke hatte, war mager. Doch immerhin: Sie reichte aus, um den Park mit seinen gewundenen Wegen, seinen als kahle Gerippe in den samtblauen Nachthimmel ragenden Bäumen und den kaum für eine Schlittenfahrt ausreichenden Hügeln im warmen Licht der alten Parklaternen in eine Traumlandschaft zu verwandeln.

Svens Brücke trug keine betriebsame Verkehrsader, litt nicht unter der Last von Abgasen und dem schweren Gewicht übermotorisierter SUVs, nein, es handelte sich um eine geschwungene Fußgängerbrücke, die auch gut zu einem japanischen Teegarten gepasst hätte. Zienmlich steil stieg sie nach oben, überspannte den Parkbach, um ebenso steil am anderen Ufer wieder abzufallen, wodurch sich Sven in den darunter eingepassten, naturnahen Räumlichkeiten bewegen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Dass sich unter der Brücke eine Art Ein-Zimmer-Appartement befand, bemerkten nur diejenigen Spaziergänger, die den zur Brücke führenden Kiesweg aufmerksam durchbummelten: Sven hatte die Außenwände seines Domizils so angestrichen, dass sie denselben Farbton besaßen, wie die Brückenkonstruktion selbst. Natürlich bestanden die Wände nicht aus Steinen, sondern aus zusammengesammelten Holzplatten und -balken, die Sven auf verschiedenen mehr oder minder legalen Deponien gefunden hatte. Und natürlich dauerte es eine Weile, bis Sven dort auch die zur Brücke passenden Farbreste aufgetrieben hatte. Doch nun schimmerte den Teilnehmern der Ausfahrt ein harmonisch eingefügter, solider Brückenunterbau entgegen.

(Fortsetzung im morgigen Türchen)

Text: © Kili Riethmayer
Bilder: © Doris Lettmann

Für den Fall, dass Ihnen die Episode Spaß gemacht hat, finden Sie mehr von den Adelshäuptern, dem Weihnachtsmann und dem Kindl unter den nachstehenden Links:
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010), Schöne Bescherung (2011), Die Überraschung (2012), Das Weihnachtsessen (2013), Aushilfskräfte (2014), Der Herzenswunsch (2015), Die Panne (2016) (Teil 1), Die Panne (2016) (Teil 2), Glühwein (2017) (Teil 1), Glühwein (2017) (Teil 2), Entzückend! (2018) (Teil 1), Entzückend! (2018) (Teil 2), Freue dich! (2019) (Teil 1), Freue dich! (2019) (Teil 2), Kumpels (2022) (Teil 1), Kumpels (2022) (Teil 2), Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 1), Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 2), Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 3), Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 4), Himmel und Hölle (2024) (Teil 1), Himmel und Hölle (2024) (Teil 2), Himmel und Hölle (2024) (Teil 3)

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